Fremderzählung: Als ich einmal ...

Jeder hat in seinem Leben irgendwann Kurven erlebt, die sich ins Gedächtnis einbrannten. Was, wenn eines dieser einschneidenden Erlebnisse mal nicht von einem selbst erzählt würde? Man lasse einen Hut kreisen, nachdem jeder auf einem Zettel die Titel-Auswahl drei potenzieller Erzählungen geschrieben hat. Der Empfänger der drei Themen darf selbst wählen, unter welchen Vorwand er oder sie in dessen Haut schlüpft.

 

Vielleicht hatte sich die Geschichte ja tatsächlich völlig anders zugetragen als im Gedächtnis der oder des Bedichteten? Kann es sein, dass etwas, das niemals passiert ist, vielleicht sogar wahrer wirkt als unsere Erinnerung? Oder spannender? Oder genauer?

 


ALS ICH ALS SIEBENJÄHRIGE NÄHGARN KLAUTE, faszinierten mich Farben. Natürlich wusste ich als großes Mädchen schon, dass Bananen für gewöhnlich gelb aussehen, Fliegenpilze meistens rot, oder dass die Polizei mit blauem Licht zu ihren Einsätzen fährt.

 

Was mich am meisten faszinierte, das waren gerade Mischungen und Übergänge: Das rosafarbene Blütenblatt auf dem Fenstersims hätte ich stundenlang ansehen und streicheln können, genau wie das nicht zu dunkle, aber trotzdem kräftige Braun auf dem Autositzüberzug meines Vaters. Aus weichem Schafsfell!

 

Ja, zugegeben fühlte ich am liebsten solche Farben - und so kam ich zur seltsamen Sehnsucht, auf dem Nähzimmertisch meiner Mutter, einer gelernten Schneiderin, immer und immer wieder die sanftfarbenen Nähgarnrollen zu berühren. Ich träumte schon deren Farben.

 

Irgendwann, wer weiß, hätte ich die minutiösen Unterschiede zwischen Mauve und Violett, Zinnober und Bordeaux-Garn zu erfühlen gelernt. Dass ich unter meinem Bett heimlich eine Sammlung meiner liebsten Schattierungen angelegt hatte, die ich nachts, wenn ich häufig nicht einschlafen konnte, im Dunkeln zu ertasten versuchte, musste aber irgendwann ans Licht kommen. Vielleicht wäre ich sonst Synästhetin geworden? Wer weiß.

 

Eine Ohrfeige später, als meine verzweifelte Mutter auf der Suche nach einem seidenen Faden, der wie kein anderer in eine kostbare Auftragsarbeit, ein Ballkleid für die märchenhafte Hochzeit einer Millionenerbin aus Udine, abgestimmt sein sollte, auf dieser Suche also nach einem Garn, das ich Tage zuvor entwendet hatte, ging meine Laufbahn als Farben- und Fadenfachfrau leider verloren. Mein Leben erscheint mir heute in vieler Hinsicht grau.

 

Doch lebe ich seither ein korrektes Leben. Selbst dass mich meine Mutter wegen einer solchen vergleichsweise verzeihlichen Bagatelle züchtigen musste, habe ich ihr verziehen. Und das unscheinbare Grau bietet ungeahnte Schattierungsmöglichkeiten, die mir zu entdecken bleiben.